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Agit-Pop! Ein Appendix zum Populären Bild

Comics und populäre Bilder als Graswurzel-System der kollektiven Wissensproduktion: Olivia Berkowicz analysiert am Beispiel von Rocky Prod. alternative Vertriebsarchitekturen von populären Comics. Als selbstorganisierte Medienkultur bilden die Zeitschriften und Bücher ein lokales Ökosystem, das unabhängig von staatlichen und postkolonialen Machtstrukturen und Institutionen funktioniert.

Die Geschichte der Verbreitung von „poor images“[1] bzw. populären Bildern hat ihre Wurzeln in den linken Traditionen der Medienverbreitung. Solch ein Ansatz findet sich in der Geschichte der Agit-Prop des frühen 20. Jahrhunderts in Sowjetrussland.[2]  Dies schließt an die Argumentation der Künstlerin und Theoretikerin Hito Steyerl an, welche im vorangegangenen Text dieser Ergänzung, nämlich “In Defense of the Popular Image” (Mai 2021), untersucht wurde. In ihren Schriften stellt sie fest, dass die Geschichte der Zirkulation der „poor images“ linken Bildkulturen wie der Agit-Prop geschuldet ist:

„Das „poor image“ – so ambivalent sein Status auch sein mag – reiht sich ein in die Genealogie von durchschlagenden Pamphleten, cineastischen Agit-Prop-Filmen, Underground-Videomagazinen und anderen nonkonformistischen Materialien, die sich ästhetisch oft „poor materials“ bedienten.“[3]

Interessant ist hier der etymologische Charakter der Wortneuschöpfung: agitieren bedeutet bewegen und zirkulieren; propagieren bedeutet verbreiten und säen. Ein populäres Bild hat genau diese beiden Eigenschaften: Es ist ein Medium, das schnell Informationen aussät, und das die Vorstellungskraft der Leser*innen bewegt.

Wenn wir das Potenzial des populären Bildes im Kontext von Kinshasa betrachten, stellen wir fest, dass die Produktion von Comic-Heften und Magazinen durch Rocky Production genau diese Fähigkeit besitzt, die Menschen mit der Macht des Bildes zu berühren. Im Unterschied zum staatlich gelenkten, zentralisierten Propagandaapparat der Agit-Prop werden die populären Bilder der Rocky-Magazine durch ein verstreutes Modell „von unten“ erzeugt, wie Rocky im Interview “Lokaler Comic-Vertrieb von Rocky Production” mit der Kulturjournalistin Ketshia Ngamala erklärt.[4] Rocky führt darin aus,

„[…] die Ideen stammen aus unserer Gesellschaft. Ideen aus der Gesellschaft über die Gesellschaft. Auf dieser Grundlage denke ich darüber nach, was wir der Gesellschaft anbieten können, was wir unseren Kindern zu lesen geben können. Es ist, als würden wir ihnen eine Lektion erteilen, eine Lektion über das Leben in unserer Gesellschaft.“[5]

In Anlehnung an das obige Zitat könnte man dieses neue Verbreitungsformat vielleicht besser als eine Form von Agit-Pop bezeichnen: populäre Bilder mit dem Vermögen, die Menschen und ihre Alltagserfahrungen zu bewegen. Im weiteren Verlauf des Interviews führt Rocky aus, dass die Comicmagazine oft von unabhängigen Verkäufer*innen in Schulen an junge Schüler*innen und auf lokalen Märkten verkauft werden. Diese Comics haben somit eine pädagogische Funktion, da sie dazu dienen, Französisch und Lingala zu üben, aber auch, um etwas über gesellschaftspolitische Themen zu lernen.

Durch die Verbreitung von Comic-Heften und Magazinen durch Rocky Production wird eine alternative Vertriebsstruktur geschaffen. Darüber hinaus schaffen sie auch ein Graswurzel-System der Wissensproduktion. So entwickeln die populären Bilder eine selbstorganisierte Medienkultur, die unabhängig von „top-down“ Institutionen wie Schulen und staatlichen Stellen ist.

Abschließend lässt sich sagen, dass die Bedeutung dieser Strategie der Bildverbreitung darin liegt, dass sie sich der Domestizierung oder Zähmung dieser verschiedenen Wissenspraktiken widersetzt. [6] In diesem Sinne sind Rocky Production und sein Netzwerk ein wichtiger Knotenpunkt im Ökosystem von Kinshasa, wobei diese interlokalen Medienkanäle als Widerstandsformen gegen postkoloniale Abhängigkeiten und Machtstrukturen fungieren.


[1] Das Begriffskonzept „poor images“ geht zurück auf Hito Steyerl; siehe dazu auch Fußnote 3 und 4.

[2] Angesichts der laufenden Invasion der Ukraine durch Russland ist die Geschichte der Bildproduktion und -verbreitung in Sowjetrussland und ihre heutige Wiederholung über digitale Kanäle auch aktuell sehr relevant. Weitere Informationen über die digitale Verbreitung von (Des-)Informationen, Infrastrukturen für fossile Brennstoffe und Medienkulturen, die in den ersten 100 Tagen der Invasion veröffentlicht wurden, finden Sie hier; https://www.e-flux.com/journal/126/460518/putin-restoration-of-destruction/; und hier; https://www.e-flux.com/journal/107/322782/is-data-the-new-gas/. Zugriff: 16. Juli 2022.

[3] Steyerl, Hito: “In Defense of the Poor Image.” e-flux, e-flux Journal #10, 2009. www.e-flux.com/journal/10/61362/in-defense-of-the-poor-image/. Zugriff: 16. Juli 2022. Übersetzung ins Deutsche durch die Redaktion.

[4] Ngamala, Ketshia: “Lokaler Comic-Vertrieb von Rocky Production”; Populäre Bilder, /de/blog/rocky-episode-3. Zugriff: 16. Juli 2022. Nach Zitaten aus dem Film, Übersetzung ins Deutsche durch die Redaktion.

[5] Ngamala, Ketshia: “Lokaler Comic-Vertrieb von Rocky Production”; Populäre Bilder, /de/blog/rocky-episode-3. Zugriff: 16. Juli 2022.

[6] Ruangrupa: documenta fifteen Handbook, Berlin, Hatje Cantz, 2022, Seite 17.


 

Gastautorin in diesem Artikel: OLIVIA BERKOWICZ

Photo: Viktorija Šiaulytė

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