Auf seinem Sterbebett veröffentlichte Kopernikus das Buch, das die moderne Astronomie begründete.
Drei Jahrhunderte zuvor hatten die arabischen Wissenschaftler Mu’ayyad al-Din al-‘Urdi und Nasir al-Din al-Tusi die für diese Entwicklung entscheidenden Theoreme aufgestellt. Kopernikus benutzte ihre Theoreme, gab aber die Quelle nicht an.
Europa schaute in den Spiegel und sah die Welt.
Dahinter lag nichts.
Die drei Erfindungen, die die Renaissance möglich machten, der Kompass, das Schießpulver und die Druckerpresse, kamen aus China. Die Babylonier überholten Pythagoras um fünfzehnhundert Jahre. Lange vor allen anderen wussten die Indianer, dass die Welt rund ist und berechneten ihr Alter. Und besser als jeder andere kannten die Mayas die Sterne, die Augen der Nacht und die Geheimnisse der Zeit.
Solche Details waren der Aufmerksamkeit der Europäer nicht würdig.
Eduardo Galeano, Mirrors. London: Portobello Books, 2009 (2008). Übersetzung aus dem Englischen durch die Redaktion.
Europa blickte in den Spiegel und sah sich in einem Retina-Display reflektiert. Jenseits des hochauflösenden Bildes von sich selbst wurde der Rest der Welt auf Fetzen von visuellen Inhalten reduziert. Verpixelt, für immer gepuffert und schmerzhaft komprimiert – die visuelle Ökonomie, die von der eurozentrischen Logik geschaffen wurde, macht die Welt jenseits des Spiegels zu etwas, das schlimmer ist als nichts. Traurige, wandernde Kopien von dem, was sie für das ursprüngliche Bild hält, nämlich sich selbst.
Dieser Text findet seinen Ausgangspunkt in dem Aufsatz “In Defense of the Poor Image” der Künstlerin und Theoretikerin Hito Steyerl aus dem Jahr 2009. Ihre Schrift verbindet die prägnante Kritik am Neokolonialismus mit einer kühnen Analyse der zeitgenössischen audiovisuellen Kultur. Im Kontext der Plattform „Popular Images“ eignet sich Steyerls Darstellung gut für eine Diskussion des politischen Potenzials in den populären Bildern, die in der kongolesischen Gesellschaft produziert und verbreitet werden. Es gibt viele treffende Beispiele auf der digitalen Plattform, die ein Gespräch darüber anregen würden, wie Comics und visuelle Populärkultur die Grenzen der bloßen “poor images”-Produktion[1] überschreiten, aber für diesen Text habe ich mich entschieden, die produktiven Aktivitäten von Rocky Production hervorzuheben. Steyerl führt den Begriff des „poor image“ ein und schreibt:
Das „poor image“ ist eine Kopie in Bewegung. Seine Qualität ist schlecht, seine Auflösung unter der Norm liegend. Während es sich beschleunigt, verschlechtert es sich. Es ist ein Geist eines Bildes, eine Vorschau, ein Thumbnail, eine verirrte Idee, ein wanderndes Bild, das umsonst verteilt wird, durch langsame digitale Verbindungen gequetscht, komprimiert, reproduziert, gerippt, neu gemischt sowie kopiert und in andere Vertriebskanäle eingefügt wird.[2]
Steyerls obiges Zitat spricht gut auf die eurozentrische Hierarchie der Bildproduktion an, aber auch auf dasselbe visuelle System innerhalb der zeitgenössischen Kunst. Videoarbeiten, digitale Fotografie und stundenlange Zoom-Konferenzen hängen von der Geschwindigkeit und Verfügbarkeit des Hochgeschwindigkeits-Internets ab. Im Kontext des zeitgenössischen Kunstschaffens stellt das Künstlerduo Mukenge/Schellhammer fest, dass das Internet für die einen ein grenzenloser Raum der Möglichkeiten ist, während es für die anderen aufgrund der geringen Qualität und der hohen Verbindungskosten weitgehend unzugänglich bleibt.[3] Von Silicon-Valley-Tech-Oligarchen betrieben, ist die Erfahrung des Internets als libertäre Traumwelt auf diejenigen beschränkt, die über die Geräte und die technologische Infrastruktur für den Zugang verfügen. Das hochauflösende Bild wird zu einem begehrten Fetisch, zu einer visuellen Erfahrung, die nur wenigen Auserwählten vorbehalten ist. Steyerl fügt hinzu, dass “… die zeitgenössische Hierarchie der Bilder jedoch nicht nur auf der Schärfe, sondern auch und vor allem auf der Auflösung beruht.”[4]
In dem „poor image“ findet sie aber auch das politische Potenzial sowie das historische Erbe der Linken. Das Low-Res-Bild ist ein Bild, das von vielen gemacht und gesehen werden kann. Zurückgehend auf das politische Pamphlet und den Agitprop ist das „poor image“ daher ein populäres Bild, argumentiert sie.[5] In Anlehnung an die Comics von Rocky Production betonen sie Steyerls Bedeutung des populären Bildes als eines, in dem die Grenzen zwischen Autor und Publikum verschwimmen und in dem Leben und Kunst verschmelzen. In den Videos auf der Plattform wird das Publikum auf eine aufregende Reise durch das Viertel Bumbu in Kinshasa mitgenommen und folgt Shekinah Kashama Mfumba bei der Produktion des Comics “The Sorcerer kills a Fetishist”. Nicht nur der Inhalt der Rocky-Comics ist eine ausführliche Diskussion wert, sondern auch die Art und Weise, wie sie produziert werden. Die Differenziertheit, die Kühnheit der Bilder und die Lebendigkeit der Farben werden durch das Verfahren des Siebdrucks erreicht. Gelatine wird auf die Metallplatten aufgetragen, um die Farbe zu fixieren, während der Druck selbst mit einer Heidelberg-Offsetmaschine erfolgt.
Die Geschichte der Druckgrafik ist fest mit dem politischen Pamphlet und dem Underground-Zine verbunden, als eine Modalität, um populäre und politische Ideen in der Gesellschaft schnell zu verbreiten, mit oft leicht zugänglichen Materialien. Boloko ya bolingo (“Das Liebesgefängnis”), die jüngste Comic-Serie von Rocky, greift auf die volkstümlichen Geschichten des populären Theaters in Kinshasa zurück, das ebenfalls eine Kunstform ist, die von Rocky Production erforscht wurde. Darüber hinaus fungiert die Arbeit von Rocky Production auch als kraftvoller Vorwurf an den westlichen kolonialen Anspruch auf Universalismus und dessen augenzentrischen Blick aus dem Nichts. In den Worten der feministischen Wissenschaftlerin Donna Haraway wird “Vision in diesem technologischen Festmahl zur unregulierten Völlerei; es scheint nicht nur der Mythos vom göttlichen Trick zu sein, alles aus dem Nichts zu sehen, sondern auch die gewöhnliche Praxis des Mythos.”[6]
In direkter Anlehnung an dieses Zitat von Haraway und ausgehend von dem historischen Kontext der kongolesischen Unabhängigkeit belegen die Comics von Rocky Production die Notwendigkeit einer neuen kollektiven Vorstellungskraft und neuen Geschichten, neuen zeitgenössischen Helden und neuen Distributionsformen.[7] Darüber hinaus spricht die hochqualifizierte Produktion dieser Comics auch für eine Form des situierten Wissens, wo die Serigraphien durch Metallplatten archiviert werden, die sich im tropischen Klima nicht zersetzen. Die Fallstudie über Rocky Production bestätigt das Argument von Steyerl, dass das populäre Bild die Grenzen westlicher kultureller Narrative sowohl in Bezug auf die künstlerische Qualität als auch auf die Art der Verbreitung überschreitet. Als solches widersetzt es sich dem westlichen technologischen “Kannibalauge”[8], das alles in mindere Kopien seiner selbst verwandeln will.
Ergänzend zum Text zwei Cover der Comics von Rocky Production:
[1] Der originale englische Term “poor image” vereint die Bedeutung zwischen niedriger Ausflösung und Armut, die mit einer deutschen Übersetzung verloren gehen würde. Deshalb wird der orginale Term in diesem Text beibehalten.
[2] Steyerl, Hito. “In Defense of the Poor Image.” e-flux, e-flux Journal #10, 2009, www.e-flux.com/journal/10/61362/in-defense-of-the-poor-image/. Accessed: 20 May 2021. Übersetzung aus dem Englischen durch die Redaktion.
[3] Mukenge/Schellhammer, et al. “Foreword.” Laboratoire Kontempo 2020, edited by Beya Othmani, 2020, p. 5. Übersetzung aus dem Englischen durch die Redaktion.
[4] Steyerl, “In Defense of the Poor Image.” Übersetzung aus dem Englischen durch die Redaktion.
[5] Ibid.
[6] Haraway, Donna. “Situated Knowledges: The Science Question in Feminism and the Privilege of Partial Perspective.” Feminist Studies, vol. 14, no. 3, 1988, p. 581. Übersetzung aus dem Englischen durch die Redaktion.
[7] Kamba, Jean. “Popular Comics and Collective Imagination.” Popular Images, 27 July 2020, popularimages.org/en/blog/popular-comics-and-collective-imagination/.
[8] Haraway, “Situated Knowledges”, p. 581. Aus dem englischen Original “cannibaleye”; die Redaktion.
Gastautorin in diesem Beitrag: OLIVIA BERKOWICZ
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